Hallo Rubin,
dem Grunde nach sind wir Seelenverwandte. Du hast es richtig verstanden:
Ich stelle meine Mutter nicht frei von Ihrer Schuld, aber ich klage heute den Menschen an......und daraus resultiert, dass ich mich mit dem Menschen und das "Menschliche" in "Ihr" auseinander setze.
Ich lasse es stehen. Mehr noch, ich urteile nicht mehr. Dazu müsste ich wissen, warum meine Mutter so gehandelt hat. Dies werde ich aber in diesem Leben nicht mehr heraus finden. Und wenn sie es mir auch sagen könnte, es wären die Beweggründe, die Emotionen, die Entscheidungen „meiner Mutter“. Nicht meine. Ich habe in meinem Leben anders entschieden.
Ich gebe Deinem Tun und Handeln in Deinen Beispielen meine volle Anerkennung und zolle dem Verhalten meinen allergrößten Respekt.
Aber das ist das Verhalten von Dir und mir. Nicht das unserer beider Mütter. Aus der Vergangenheit heraus können wir an dem Verhalten unserer Mütter nichts mehr verändern, aber aus der Erfahrung können wir die Zukunft beeinflussen. Gerade weil wir so viel schreckliches erlebt haben, sind wir für das Schicksal unserer Kinder sensibler. Wir haben in unserer Entwicklung Prioritäten entwickelt....hin zur Zivilcourage.
Zivilcourage?.....ich hatte eine Lehrerin in der 5 Klasse. Als sie meine offenen Wunden am Rücken gesehen hat und ich ihr sagte woher sie stammten, hat sie mich vom Sport befreit ( anscheinend wollte sie sich und meinen Mitschülern diesen und alle künftigen Anblicke ersparen )......auch sie hat weggeschaut.
Zivilcourage? .....ich wurde mit 4 Rippenbrüche und einem Oberschenkelhalsbruch als 12-jähriger ins Krankenhaus eingeliefert. Obwohl mein Vater eine für niemanden schlüssige Erklärung dem Arzt angesagt hat, hat dieser in der Zeit meines Krankenhausaufenthaltes nicht ein Wort mit mir gewechselt ( er wollte mit diesem Problem nicht konfrontiert werden ) .....auch er hat weggeschaut.
Zivilcourage?......mit 14 wurde ich einen Tag vor meiner Konfirmation in Frankreich von der Polizei aufgegriffen. Die französische Polizei und die Jugendfürsorge Freiburg, die mich an der Grenze übernommen hat, haben es geschafft, mich an diesem Tag aus über 800 km Entfernung vom Wohnort, nach Hause zu bringen. Obwohl ich lediglich ein mal am Konfirmandenunterricht teil genommen habe, wurde ich am Sonntag früh konfirmiert. Ein Gespräch ( 4 Minuten ) mit dem Pfarrer blieb erfolglos (er wollte mit diesem Thema den für mich würdevollen Anlass nicht trüben ).........auch er hat weggeschaut.
Mein Onkel, mein Bruder, mein Klassenlehrer, mein Ausbilder, mein Taufonkel, meine Cousine..............mehr?
Rubin......was hätte ich von meiner Mutter verlangen sollen?......Einer Frau, die im Krieg ihren ersten Mann verloren hat und meinen Stiefbruder über die Nachkriegsjahre „allein“ groß bekommen hat. Einer Frau, die in den späten 50er erneut jemanden gefunden hat und im Abstand zu meinem Bruder 14 Jahre später ein weiteres Kind bekam (mich). Einer Frau, in einer Zeit, wo eine alleinerziehende Frau als Bastardbraut bezeichnet wurde und ich ein Bastard gewesen wäre. Einer Frau, die mich mit knapp 40 bekommen hat und in der „schlagkräftigsten Zeit“ meines Vaters 50 gewesen ist.........ich vermag hier nicht zu „urteilen“ und kann deshalb auch nicht „verurteilen“.
Was ich aber kann........ich kann Aufklären. Daher habe ich ein Projekt begonnen, was mich psychisch und physisch bis an meine Grenzen belastet. ..........ich kann eingreifen wo es wichtig ist (wie in Deinen Beispielen angeführt) ........ich kann die Menschen annehmen, wie sie nun einmal sind..........und lass es Dir gesagt sein, es gibt nicht viele Menschen, die Zivilcourage besitzen.
Lass mich lediglich ein einziges Beispiel aufzeigen......Kinder in der Schule. Wenn Du meine HP aufsuchst, wirst Du den Sinn meines Anliegens sehr schnell verstehen. Meine Botschaft ist: Hinter jedem Opfer steht ein Täter.........darum möchte ich die Menschen, die Gesellschaft auffordern, sich „vor“ die Opfer zu stellen, sich vor die Kinder zu stellen. Mit der Idee meines Projektes bin ich zur hiesigen Grundschule gegangen und habe darum gebeten, mein Projekt vor seinem ersten Auftritt den Eltern am Gesamtelternabend vorstellen zu dürfen. Mein Ansinnen wurde im „Kollegium“ mit der Begründung abgelehnt, ich wollte mich künstlerisch profilieren.........Rubin, meine Meinung dazu ist.......man will mit den Themen die hier in „Gemeinsam gegen Missbrauch“ und innerhalb meines „Projektes“ behandelt werden, nichts zu tun haben.........9 von 11 Lehrerinnen sind Mütter........2 davon haben bereits Enkelkinder.
Das ist die Zivilcourage die wir jeden Tag erleben. Inmitten dieser Zivilcourage lebte meine und lebt Deine Mutter..........wen wollen wir nun „anklagen“?
Rubin, ich habe meine Mutter „Mensch“ werden lassen. So Menschlich, wie alle andere Menschen, die in der Vergangenheit meinen Weg gekreuzt haben und wie all die Menschen, die in Zukunft meinen Weg kreuzen werden. Ich kann nicht alle Menschen anklagen.........es sind nicht die Mütter „alleine“, es sind zu viele.
Manchmal fühle ich mich wie Don Quischott und seine Windmühlen.........es sind zu viele.....und meine Mutter war ein Mensch von Ihnen. So krass und unnormal es vielleicht klingen mag, meine Mutter war auch nur ein Mensch. Wie all die anderen, die weggesehen haben, auch.
Deshalb lasse ich es stehen.......deshalb kann ich aus „Ihren“ Fehlern lernen. Deshalb freut es mich umso mehr, dass es Menschen wie Dich ( und hier im Forum noch so viele mehr) gibt.
Liebe Grüße
Alfons
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