Gegen - Missbrauch e.V.

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 Betreff des Beitrags: wie ich zum Thema kam
BeitragVerfasst: 21.12.2004, 15:04 
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Registriert: 13.12.2004, 13:58
Beiträge: 8
Ich bin 37 Jahre alt und seit 13 Jahren mit meiner Frau zusammen; seit 10 Jahren sind wir verheiratet und wir haben drei Kinder. Ich dachte immer, dass wir über alles reden können, bis sie mir vor drei Jahren gestand, dass sie als Kind sexuell missbraucht worden war. Das war ein Schock für mich: weniger die Details des Missbrauchs als vielmehr die Tatsache, dass es Dinge gibt, die meine Frau vor mir jahrelang verborgen halten musste. Aus welchem Grund nur? Sie fürchtete, ich hätte sie dann nicht geheiratet. Ich empfand diese Begründung mir gegenüber äusserst unfair und hatte das Gefühl, betrogen worden zu sein. Durch sie? Durch mich? Durch die Ängste meiner Frau? Durch mein Zulassen von Ungeklärtem? Verständnis für die Ängste und Gefühle dahinter entwickelte ich erst durch Gespräche mit anderen betroffenen Frauen im Internet. Das Sprechen mit mir über den Missbrauch und die Folgen fällt ihr bis heute sehr schwer, ich suche daher auch nicht das Gespräch mit ihr darüber. Wir streifen es manchmal im Gespräch über die Kinder, über Bekannte oder über unser Sexualleben. Unsere Kommunikation hat offenbar auch ihre Grenzen.
Das ”coming-out”löste eine schwierige Phase voller Streits aus, in denen jede Menge Konflikte und unterschiedliche Ansichten zutage traten: ihre und meine Bilder von Partnerschaft, von Offenheit, von Kindererziehung, von erfüllter Sexualität. Ich habe mich oft dabei ertappt, Streits vom Zaun zu brechen, sie geradezu in die Enge zu treiben, weil dann die Probleme und unterschiedlichen Ansichten leichter auf den Tisch kamen. Einerseits war ich um jede neue Offenheit froh, andererseits wurde viel Zentrales bei mir in Frage gestellt, was mir sehr zusetzte: Wie weit ist mein Bedürfnis nach Sex mit meiner Frau
entfernt vom Missbraucher? Sind meine Verführungen im Bett etwa manchmal ”übergriffig”? Wäre es ohne Missbrauch anders mir ihr? Würde sie einem anderen mehr preisgeben können als mir? Würde sie in anderen Beziehungsdingen eine ähnliche konsequente Verschlossenheit mir gegenüber durchhalten? Wie erlebt sie heute ihre Sexualität mit den ambivalenten Erfahrungen in der Kindheit? Würde sie ihre Sexualität mit einem anderen besser leben können? Mit einer Frau vielleicht? Wäre es eine Art Befreiung für sie? Ändern sich die Auslöser und Erinnerungen, ihre Grenzen mit der Zeit? Wie ändern sich meine Grenzen mit der Zeit? Wie erlebt sie den Alltag mit mir unter dem Gesichtspunkt ”Macht”? Bedeutet eine Trennung die Befreiung für mich von all den unangenehmen Fragen? Einfache Antworten darauf habe ich nicht, auch meine Frau nicht. Manche Fragen können sich ebenso aufwerfen in einer langjährigen Beziehung ohne die explizite Erfahrung sexuellen Missbrauchs. Ich denke, es ist auch kein Zufall, dass das Thema ”Missbrauch” erst nach Jahren bei uns auftauchte, nach den unbeschwerten Jahren.
Ob die Kinder die eigene Kindheit wieder in Erinnerung gerufen haben, weiss ich nicht. Aber sie spielen bei der Bewältigung dieser Krise eine wichtige Rolle, weil sie eine ganze Palette an Gefühlen anregen und für uns beide neue Erfahrungen im Bereich Liebe, Berührung und Sexualität ermöglichen. Und weil sie den Preis der Partnerschaft erhöhen. Bisher habe ich keine erfüllendere Partnerschaft erlebt und wenn ich den Eindruck von Unzufriedenheit oder fehlender Erfüllung habe, stellt sich für mich eher die Frage, wie ich das mit meiner Frau besser umsetze. Jetzt befinden wir uns wohl in einer Art Emanzipationsprozess voneinander, der noch eine ganze Zeit andauern wird. Ich hoffe, wir entwickeln dabei mehr Raum für die Liebe zueinander.

Zwei versöhnende Sätze finde ich an einem unversöhnlichen Wendepunkt in einer Partnerschaft ganz wertvoll:

Vergiss nicht, was er/sie dir Gutes getan hat.
(Ps. 103, 2)

Das Leben
wäre vielleicht
einfacher
wenn ich dich
nicht getroffen hätte
Es wäre nur nicht
mein Leben.
(Erich Fried)


P.S. Den obigen Text hatte ich als Partner-Beitrag für die DVD "Folgen- der Film" geschrieben, und wieder zurückgezogen. Lange Zeit war ich der Meinung, Mitteilen der eigene Geschichte und Sichtweise würde zu einem bunten Bild beitragen, das die Vielfalt der Beziehungen dokumentieren würde. Nach drei Jahren Forenbeiträgen bleibt mir eher der Eindruck: Vereinfachen und Verallgemeinern, Ausblenden des Anderen, ist wohl doch der entlastende, einfache Weg der Verarbeitung und Bewältigung des komplexen Themas im internet. Ist wohl auch menschlich.
Ich habe den Beitrag nun doch wieder abschliessend ins internet gestellt, weil ich mich gut an die erste Zeit erinnern kann, als ich dachte, ich wäre der einzige, dem es so geht. Und weil ich nach wie vor der Meinung bin, Vielfalt hilft, das eigene Erleben zu relativieren. Meine Ohnmacht über Interpretationen aus "Verbündeten"-Kreisen, die ich zum Teil hanebüchend finde, werde ich wohl oder übel aushalten müssen.

P.P.S. Ich will konkreter werden, das Thema beschäftigt mich.
Zitat:
es ist eben auch eine folge des missbrauchs, dass insbesondere die partner sich plötzlich in einer zerstörerischen beziehung wiederfinden. und selbst das rationale wissen darüber hilft nicht sofort weiter.
beziehungen mit ueberlebenden sind meist faszinierend. sie lassen alltägliche sorgen draussen, lassen neue sichten wachsen und können jemanden völlig verändern, der nicht die ursachen erkennt. oder nicht erkennen will.

Fast gleichlautende statements finden sich von Thomas W. (admin von www.folgen-derfilm.de), Jürgen A. (admin von www.verbuendeten-folge-forum.de) und Sven G. (admin von www.aktiv-gegen-sexuelle-gewalt.de). Sicher haben alle drei ihre eigene, unterschiedliche Motivation dazu, den geschriebenen Worten sieht man es allerdings nicht mehr an. Alle drei antworten auf Kritik mit dem Hinweis auf eine grosse Emotionalität bei diesem Thema, bei der sich eine Antwort erübrige (sinngemäss). Alle drei sagen von sich, dass sie keine sexuelle Beziehung zu einer "Überlebenden" haben bzw. dass sie beendet ist. Alle drei engagieren sich über Monate und Jahre in interaktiven internet-Projekten, die die Plattform für einen vielfältigen Meinungsaustausch bieten bzw. boten. Damit sind die Ähnlichkeiten vielleicht auch schon zu Ende, erstaunlich finde ich es allemal.
Spannend finde ich, ob und wie wie diese statements und ihre Variationen im internet die Meinungsbildung der Öffentlichkeit über das Thema "Folgen des Missbrauchs" beeinflussen angesichts der gängigen Informationstools google etc.

Machts gut, Marcus


Zuletzt geändert von marcus am 19.10.2005, 08:54, insgesamt 3-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 21.12.2004, 22:26 
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Beiträge: 58
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Hallo Marcus,
kann mich haba bedenckenlos anschließen.
Viel anders ergíng es mir auch nicht und immer noch nicht so richtig.

Ich glaube nicht das du (so wie uch einige andere Verbündete) sein Liebstes im Stich läßt, nein nein nein.

Alles braucht seine Zeit, auch wenns Weh tut.

Sorry Jörg

_________________
Langsam wird die Wiese grün,
nur wann fängt sie an???


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BeitragVerfasst: 23.12.2004, 14:15 
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Zuletzt geändert von marcus am 18.10.2005, 08:43, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Es gibt krasseres
BeitragVerfasst: 07.03.2005, 20:00 
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Beiträge: 18
Hallo Marcus,

ich fürchte, Du wirst jetzt gleich einen Menschen mehr hassen. Damit kann ich leben - hass mich doch, aber nimm Dich in Deiner Familie etwas aus dem Focus. Zuviele "ich", "mich" und "mirs" in Deinem Posting und Du fängst mit einer Betroffenen Streit an? - Meinst Du denn, dass Du damit auch nur das Geringste bewirken kannst?

Du bist enttäuscht, dass Deine Frau solange brauchte, um sich zu öffnen und Du fühlst Dich betrogen? Meine Frau öffnete sich nach 37 Jahren und viele Frauen nehmens wohl mit in Ihr Grab und betrogen wurden unsere Frauen - um Ihre Seelen und zwar von uns - von uns Männern.

Mich wundert überhaupt, dass eine missbrauchte Frau noch zu einem Sexualleben fähig ist, auch wenn's Dir nicht ausreicht.

So, wenn Du mich für mein Posting jetzt hassen musst, wie gesagt, da hab' ich ein dickes Fell. Wenn meine Botschaft Dich aber erreicht und Du glaubst, ich kann Dir helfen, dann - bitte - Nimm meine Hilfe in Anspruch. Ich bin gerne für Dich da.

Ich wünsche Euch Alles Liebe und Vertrauen in Eure Zukunft

Achso - beinahe vergessen - mein Kollege, mit dem ich über die Vorkommnisse sprach - wir arbeiten beide im Sozialdienst (hoffentlich glaubst Du jetzt nicht wir trinken Tee und werfen Wattebällchen - es gibt harte Formen des Sozialdienstes) - hat mir einen guten Rat gegeben und ich hab's mir gemerkt - "Du must als aller erstes Deine Jammerlappen Selbstmitleidsnummer wegstecken, das ist das Fundament für alles andere" - glaub's mir bitte.

Mike

_________________
Es kann ein ganzes Menschenleben dauern, bis es hoch kommt. Dann sind aber ganze Familienschicksale beeinflusst. Nichts verbergen - nichts akzeptieren - nicht warten


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 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2005, 09:49 
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Beiträge: 8
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Zuletzt geändert von marcus am 04.10.2005, 19:03, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Ich möchte gerne helfen
BeitragVerfasst: 08.03.2005, 12:13 
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Registriert: 01.03.2005, 19:39
Beiträge: 18
Hallo Marcus,

Danke für Deine Kritikfähigkeit. Wahrscheinlich gelingt es mir durch meine Berufsausbildung schneller, die Problematik zu erkennen (bin Diplom-Pädagoge) - einfacher wirds dadurch nicht. Die Schläge treffen härter.

Zu meiner (unserer) Situation und als Denkanstoß. Ich dachte zunächst, dass meine Frau nach der Öffnung am meisten unter meinen Fehltritten leidet. Dem ist nicht so. Der Vater meiner Frau war Alkoholiker und hat die ganze Familie mit seinen Anfällen unter Druck gesetzt. Keine körperliche Gewalt sondern die Sebstmitleidstour - Ich kann nicht mehr - ich nimm mir das Leben - ihr seid schuld - Du weißt sicher, was ich meine. Missbraucht wurde meine Frau von ihrem Cousin. Soweit zum Hintergrund.

Da ich nicht selten im Alkohol eine gewisse Stimmulanz suchte, wurde ich zum Dämon (Vater+Cousin) in einer Person und meine Frau hat mich 37 Jahre als Vergewaltiger erlebt. Natürlich habe ich nie Gewalt ausgeübt aber meine Frau hat es so erlebt.

Nach der Öffnung bin ich nun zwangsläufig schuldig. Auch meiner Frau ist klar, dass dies nicht dem realen Sachverhalt entspricht. Dem psychisch erlebten sehr wohl. Ich werde versuchen, meiner Frau eine neue Sexualität anzubieten. Sie soll sich testen, am besten wohl mit einer Frau (wenn's ein Mann ist, werde ich das auch zulassen) und - Marcus. ich liebe meine Frau.

Eine Chance sehe ich nur, wenn ich mich jetzt ganz weit zurücknehme und meiner Frau alle erdenklichen Freiheiten lasse. Ich glaube nur so, wird sie das Bild vom Vergewaltiger wieder los.

Ich würde mich freuen, von Dir zu hören, wie meine Worte auf Dich wirken.

Alles Gute für Deine Frau und Deine Familie

mike

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 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2005, 12:40 
ich finde das übrigens sehr gut, dass da sehr viel "ich" drin vorkommt

ich habe die erfahrung gemacht, dass viele verbündete selbst untergehen und eigene bedürfnisse und wünsche vergessen oder klein machen, aus der angst grenzen der partner zu übertreten

aber auch die grenzen der verbündeten sind wichtig

das mal schreiben wollte

:oops:


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 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2005, 15:53 
ich kann mich birmas nur anschließen.
wenn ich mich selbst verliere werde ich irgendwann nicht mehr in der lage sein zuzuhören, mich zuzuwenden, für meine tochter da zu sein. sie spürt genau, dass sie mich mit ihren erzählungen ungeheuer belastet. wenn ich dann nicht für mich sorge trage, damit ich für sie sorge tragen kann.... wo soll das für mich enden? irgendwann ist auch die kraft einer mutter, eines partners zu ende und damit ist keinem gedient.
das ICH ist sehr, sehr wichtig, damit das DU erhalten bleiben kann.
und - wie bei mir häufiger mal :wink: - ein satz aus der bibel: liebe deinen nächsten WIE DICH SELBST
diesen zweiten teil vergessen viel zu viele partner und helfer.
hexchen


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 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2005, 17:41 
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Registriert: 25.08.2004, 18:26
Beiträge: 59
Da fällt mir doch spontan ein Text ein, den ich hier kurz niederlegen möchte:

Wie werden aus Zuschauerinnen und Zuschauern Verbündete? - Einige Überlegungen

Gesetzt den Fall Sie möchten aus der Position des unbeteiligten Zuschauers herauskommen, weil Sie für sich entschieden haben, dass die Haltung der Neutralität die Täter und die Ausbreitung der "Epidemie Gewalttätigkeit" unterstützt - was können Sie tun? Womit müssen Sie rechnen? Worauf haben Sie sich einzustellen? Ich kann Ihnen hier nur einige erste Überlegungen anbieten und lade Sie zum Mitdenken ein.

Gewalt wahrnehmen: Täter haben eine gesellschaftlich gestützte Fähigkeit, die Wahrnehmung der Gewalt zu verhindern. Sie machen die Gewalt unsichtbar, definieren sie als Liebe, einen unbedeutenden Übergriff, eine folgenlose Tat oder gar eine Situation, deren Opfer sie wurden. Aus einem Verbrechen machen sie ein Kavaliersdelikt - diese Deutung beim Gegenüber augenzwinkernd einfordernd oder bereits voraussetzend. Mit Dreistigkeit gehen Täter weiter ihren gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit nach - unterstützt von einer Seilschaft von HelferInnen, die sich oft ihrer Tätigkeit nicht bewusst ist. Da kann es schon einmal passieren, dass ein Täter vorgibt, durch seine unbestrittene seelisch-sexuelle Gewalttat - die er in ihrer Qualität als Gewalttat jedoch leugnet - "gereift" zu sein. Es ist also zu lernen, Gewalt überhaupt als solche wahrzunehmen, sich der Definitionsmacht von Tätern zu entziehen und Situationen aus der Perspektive der Opfer zu betrachten.

Es gilt, einen Blick auf sehr unterschiedliche Gewaltformen zu gewinnen - auf kriegerische ebenso wie auf sprachliche und strukturelle, auf körperliche, sexuelle und seelische Gewalt.

Gefühle zulassen, ohne sich in ihnen zu verlieren: Die Wahrnehmung von Gewalt ist zumindest im Anfang oft von einer Achterbahnfahrt der Gefühle begleitet. Zorn, Empörung, Ohnmacht, Mitgefühl, Aktionismus, Hass auf Täter aber auch Aggression gegenüber Opfern (Warum haben die sich nicht gewehrt?!) können sehr belasten. Am schwierigsten auszuhalten sind vielleicht die Ohnmachtsgefühle, wenn Sie erkennen müssen, dass z.B. ein Kind keine Handlungsoption hatte, die seine Situation hätte verbessern können. Diese Ohnmacht ähnelt der Ohnmacht der Opfer. Sie ist tatsächlich schwer auszuhalten. Sie kann jedoch auch als Akt der Solidarität mit den Opfern gedeutet werden. Dann ist ihr eine Kraft immanent, die zum beharrlichen Widerstand befähigt. Auch und gerade wenn heftige und gegenläufige Gefühle im Gefolge der Beschäftigung mit Gewalt auftauchen, haben Sie ein
Recht auf Abstand und Berücksichtigung der eigenen Belastbarkeit: Die Wahrnehmung von Gewalt und die Konfrontation mit ihr kann Ihr Wohlbefinden und Ihr Sicherheitsgefühl beeinträchtigen. Dann ist es gut, sich klar zu machen, dass Sie auch wieder in den Zustand der Gelassenheit zurückfinden und bewährte Mittel der Selbstberuhigung anwenden dürfen. Nur weil ein anderer Mensch diese Möglichkeit nicht ohne Weiteres hat, ist sie Ihnen nicht verboten. Im Gegenteil: Verbündete benötigen Freude, damit sie Kraft und Ausdauer haben. Zugleich können Sie damit Überlebenden als Modell dafür dienen, dass Leid UND Freude zum Leben gehören. - Wichtig ist auch, dass Sie auf Ihre eigene Belastbarkeit achten. Sie können niemandem mehr helfen, wenn Sie sich selbst überlasten. Es ist gut, fürsorglich mit sich selbst umzugehen.

Sich um Klärungen bemühen, auch wenn dies schmerzhaft sein kann: Vielleicht entdecken Sie bei sich Urteile über Aspekte von Gewalttaten, von denen Sie fürchten, sie widersprechen möglicherweise der "political correctness". Vielleicht fürchten Sie, Betroffene zu verletzen, wenn Ihre Urteile und Vorurteile benannt werden. Dann bedenken Sie bitte, dass die unausgesprochenen Fragen, Urteile, Vor-Urteile, Vorbehalte... solange im Untergrund schwelen und das Gespräch vergiften, bis es versandet. Gewaltüberlebende haben im Dienste ihres Überlebens häufig gelernt, seismographisch untergründige Stimmungen und atmosphärische Störungen wahrzunehmen. Im Interesse der Fortdauer konstruktiver Zusammenarbeit ist es gut, die Unklarheiten auf den Tisch zu legen und gemeinsam zu beleuchten.

Ihre eigene Stärke nutzen: Sie können durch aufmerksames und Anteil nehmendes Zuhören Leid reduzieren helfen. Aber Sie können das Leid der Opfer nicht tragen und sollten dies auch nicht wollen. Der Versuch würde Ihre Handlungsfähigkeit einschränken - eine Handlungsfähigkeit, die für die Opfer und zur Verhinderung weiterer Opfer dringend gebraucht wird. Es ist hilfreich, wenn Verbündete ihre eigene Rolle erkennen und sie nicht mit der Rolle der Opfer verwechseln.

Mit äußeren Widerständen rechnen: Sie müssen davon ausgehen, dass Sie unterschiedlichsten Widerständen begegnen, wenn Sie "Gewalt" zum Thema machen oder gar zu erkennen geben, dass Sie mit Betroffenen zusammen arbeiten. Sie müssen gewärtig sein, dass auch Ihnen geschieht, was Opfer kennen: Sie werden isoliert. Der mit Abstand häufigste Widerstand geschieht in Form von Schweigen, das Sie an Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln lässt. Widerstand kann Ihnen jedoch auch als aggressive und beleidigende Abwehr begegnen, manchmal völlig unvorbereitet und ohne nachvollziehbare Argumente. Mit Verleugnen der Bedeutung des Themas, Verharmlosung der Folgen, Verkleinerung der Problemumfangs, Umkehrung der Problematik (Missbrauch mit dem Missbrauch), Beschuldigung der Opfer.... müssen Sie rechnen. Bedenken Sie, dass "Gewalt" in einem hochwirksamen Tabu-Bereich angesiedelt ist, der "nicht ungestraft" durchbrochen werden kann. Die widerständigen Reaktionen sind "normale" Reaktionen auf die drohende Erkenntnis, wie sehr unser Leben von Gewalt geprägt ist. Das Wissen darum kann Sie vor vorschneller Verurteilung anderer Menschen schützen, ohne Ihr klares Urteil trüben zu müssen.

Mit inneren Widerständen rechnen: Erschrecken Sie nicht vor sich selbst, wenn Sie bei sich feststellen müssen, dass Sie des Themas Gewalt überdrüssig sind, es abwehren wollen, zur (vermeintlich gewaltfreien) Tagesordnung übergehen möchten. Vielleicht erkennen Sie, dass Sie insgeheim die Strategien derer übernehmen möchten, die über Gewalt schweigen, sie befürworten, verharmlosen, nicht wahrnehmen, Opfer beschuldigen.... Opfer kennen diese Reaktionen als "Identifikation mit dem Aggressor".

Bedenken Sie, dass das Überlaufen zur Täterseite ein Versuch ist, mit Ihrer Ohnmacht umzugehen. Es ist gut, diesen Versuch bei sich selbst wahrzunehmen, ohne sich dafür zu verurteilen. Bereits die Wahrnehmung kann verhindern, dass Sie tun, was Sie - auch - denken. Allerdings müssen solche Impulse ausgesprochen werden dürfen, damit sie nicht im Untergrund Unheil anrichten.

Der Versuchung zum Aktionismus widerstehen: Die geschärfte Wahrnehmung für Gewalt und das Mit-Fühlen mit Opfern, wenn Sie einmal die langfristigen Gewaltfolgen kennen, können dazu verführen, schnell und viel gegen Gewalt unternehmen zu wollen. Wenn Sie bedenken, dass Gewalt ein Phänomen ist, das die Menschheit schon immer begleitet hat, können Sie die Größe der Aufgabe ermessen. Dieses Wissen schützt Sie vor Selbstüberforderung und der dann meist schnell folgenden Resignation.

Der Versuchung zur Geringschätzung der eigenen Möglichkeiten widerstehen: Es ist schon viel gewonnen, wenn Sie in Ihrer Lebenswelt nach Ihren Kräften für die Wahrnehmung von Gewalt sensiblisieren helfen - und das ist oft schwer genug. ()... Zivilcourage wird benötigt, wenn in der Öffentlichkeit zum Schutz eines Menschen aufzustehen und einzugreifen ist. Phantasie und Beharrlichkeit ist gefragt, wenn Sie sich im beruflichen und nachbarschaftlichen Kontext für gewaltreduzierende Verhältnisse einsetzen. Es ist gut, wenn Sie aufmerksam und dankbar Ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen und würdigen können.

Sich um (spirituelle) Verankerung und Freude bemühen: Ohne eine lebendige Verankerung in einem spirituellen Halt ist die Konfrontation mit der Gewalttätigkeit von Menschen m. E. nicht auszuhalten. Sie benötigen ein zuverlässiges Wertesystem, das Ihnen Orientierung und Richtschnur für eigene Entscheidungen ist. Eine gute Verankerung in einem tragfähigen Sinnsystem erlaubt Ihnen, die Frage nach dem Warum des Leids zu stellen, auch wenn Sie keine Antwort finden: Sie können die Antwort Gott überlassen, ohne in Hoffnungslosigkeit zu fallen

(Quelle: www.talita-kum.de)


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