Ich bin Erzieherin im Kindergarten und habe seit ein paar Wochen ein Problem. Ich betreue einen Jungen, J. 6 Jahre und 3 Monate alt. Er hat eine Schwester von 8 Jahren und eine von 4 Jahren. Es scheint eine "ganz normale" Mittelstandsfamilie zu sein, eigenes Häuschen, Vater arbeitet viel, Mutter ist Hausfrau, die Großeltern nehmen die Kinder ab und zu am Wochenende und helfen wo sie können. Es ist eine sehr christliche Familie, die auch oft an Veranstaltungen und Freizeiten vom CVJM teilnimmt.
J. ist ein aufgewecktes Kind, durchschnittlich intelligent, sehr interessiert an allen möglichen Themen, fiel im Kindergarten bisher nur dadurch auf, dass er Probleme hat, sich an Regeln zu halten. Er versucht oft, sich durchzuwuseln, anstatt zu sagen, er möchte z.B. sein Pausenbrot nicht essen...Ebenso haben er und seine Schwester eine sehr ausgeprägte Fäkaliensprache, die sie am Liebsten am Esstisch im Kindergarten auspacken und alle anderen Kinder damit anstecken.
Anfang Januar fing es bei uns an... J. war mit Lu., einem 4-Jährigen Jungen im Waschraum. Lu. kam zu mir und berichtete, J. habe in die Hose gepieselt und könne nicht herkommen. Ich hab ihm eine neue Hose gebracht, er zog sich um und für mich war die Sache damit erst mal erledigt.
Am nächsten Tag kam die Mutter von Lu. und erzählte, der Sohn habe zuhause erzählt, J. wollte ihn überreden, "an seinem Pipi zu lutschen", was er allerdings nicht getan hat. Lu. konnte sich seiner Mutter anvertrauen und ist damit auch in der Kindergartengruppe entrüstet herausgeplatzt.
Es folgte ein Gespräch mit der Mutter von J., die erklärte, er habe derzeit (und seit längerem) eine Phase, in der er sich und seinen Körper entdeckt. Er spielt an seinem Penis, zeigt sich oft seiner Familie und hat sich wohl zuhause auch vor anderen Kindern ausgezogen und seinen Penis herumgezeigt. Die Mutter fragte den Kinderarzt um Rat, der sagte, es sei eine normale Phase, die sich auswüchse...
In der folgezeit haben wir J. nicht wirklich aus den Augen gelassen.
Einmal ist er ausgebüxt und hat, wieder im Waschraum, Le., 4 1/2 Jahre, dazu gebracht, an seinem Penis zu lutschen.
Wieder ein Gespräch mit J. Mutter, die daraufhin mit J. zu einer Familientherapeutin gegangen ist, da sie Angst hat, J. übertrage dieses Verhalten durch eigene Missbrauchserfahrungen.
Le. erzählte zuhause nichts von dem Vorfall im Waschraum, die Eltern erfuhren durch uns Erzieherinnen davon. Wir alle waren hilflos und wussten nicht recht, wie wir mit der Sache umgehen sollten.
J. durfte nicht mehr alleine in den Waschraum gehen oder unbeobachtet spielen, immer war eine Betreuerin dabei, was natürlich den anderen Kindern auffiel. Wir waren in der Zwickmühle: wie schützen wir alle anderen Kinder vor J. - und wie schaffen wir es gleichzeitig, ihn nicht in eine Täterrolle zu drängen??
Wir hatten ein Gespräch mit einer Psychologin, mit dem wir recht unzufrieden waren, kam als Konsens heraus: Das sind Kinder, die spielen bloß, das kann durchaus Spielen sein...
Unsere Frage, wie wir mit J. und den beiden anderen Jungen umgehen sollten, wurde nicht befriedigend beantwortet, so hatten wir noch zwei Beratungsgespräche bei Kobra e.V.
Hier wurde uns geraten, eine eigene Einstellung zu kindlicher sexualität zu finden, da auch Kindergartenkinder sexuelle Wesen seien und durchaus onanieren und Sexspiele treiben...
Immerhin erhielten wir hier Informationen über mögliche Anzeichen für sexuellen Missbrauch.
Im Urlaub konnte sich Le., auf gezielte, aber versteckte Fragerei des Vaters seinen Eltern öffnen. Hier kam die Geschichte aus dem Waschraum heraus wie noch einiges anderes:
J. packt am Esstisch seinen Penis aus, die Kinder müssen ihren Kopf unter den Tisch stecken und ihn sich angucken. Sie dürfen dabei nicht lachen, damit es keine Erzieherin bemerkt.
J. sagt Dinge wie: Ich nehme jetzt meine Tasse, gehe damit aufs Klo und trinke dann mein Pipi...
Aufgrund der neuen Tatsachen hatten wir 2 Erzieherinnen ein Gespräch mit J. in dem wir ihm sagten, dass wir solches Verhalten hier nicht haben wollen. Es sei toll, ein Junge zu sein, wir könnten auch verstehen, dass er stolz auf seinen Penis sei und ihn herumzeigen möchte, so wie es sicher angenehm sei, wenn er ihn streichelt und berührt. Aber seine Mutter habe ihm ja schon erklärt, dass es Dinge gibt, die man am besten nur zuhause machen solle, da manche Leute dieses Verhalten nicht mögen. Ebenso dürfe man kein anderes Kind zwingen, etwas zu tun was es nicht will.
J. erzählte, er habe eine Taschenlampe bekommen, mit der er sich unter seiner Bettdecke ansehen dürfe und wenn er zuhause seiner Mama und seinem Papa seinen Penis zeige, würden sie sagen, dass es schön sei, dass er einen habe und dass sie ihn jetzt schon sehr oft angesehen haben und er ihn wieder einpacken soll...
Wir haben ihm gesagt, dass wir keine Lust mehr haben, ihn zum WC zu begleiten und dass wir ihm vertrauen, dass er hier alle Kinder in Frieden lässt. Wir haben ihm das Versprechen abgeknöpft, dass er nichts mehr tun wird.
Bis heute ging alles gut.
Heute kam die Mutter von Lu. und erzählte, dass J. und Lu. bei J. zuhause gespielt haben, auch allein in seinem Zimmer. Nun hat J. den kleinen gezwungen, sich auszuziehen, hat ihn festgehalten und an dessen Penis gelutscht. Auch soll er an seinen Po geleckt haben und ihn gezwungen haben, an seinem Penis zu lutschen.
Lu. möchte nicht mehr in den Kindergarten kommen, er hat Angst vor J., der sich im Kreis immer neben Lu. setzt und ihm so noch mehr Angst macht. Wir gehen dazwischen und hoffen, Lu. die Sicherheit zu geben, die er braucht.
Nun, ich weiß, dass solche Ferndiagnosen immer schwer zu stellen sind. Ich weiß, dass Kinder heutzutage viel im Fernsehn sehn, auf der Straße aufschnappen oder einfach aus Neugierde oder aus einem Geborgenheits-defizit heraus handeln (wie die Psychologin sagte: Vielleicht wurde er nicht lang genug gestillt und drum lutscht er so gern an Penissen, weil die ebenso weich und gut zum saugen geeignet sind wie die Mutterbrust). Ebenso weiß ich, dass man ein Kind von 6 Jahren nicht als Täter bezeichnen kann.
Aber wie soll ich mit J. umgehen? Was rate ich seinen Eltern?
Wie soll ich die anderen Kindergartenkinder von Angriffen von J. schützen? Anfangs versuchte er die Jungs zu überreden, mittlerweile setzt er Zwang ein. Kann er das aus Filmen haben? Oder deutet das schon sehr auf einen Missbrauch hin? Ebenso die Heimlichkeiten, es darf keiner Lachen, damit es niemand erwachsenes mitbekommt...
Was tue ich mit Le. und Lu.?? Sind sie von einem fast gleichaltrigen missbraucht worden? Gibt es Missbrauch unter so jungen Kindern?
Ich weiß tatsächlich nicht, was hier angebracht ist und wohin ich mich wenden kann, was ich den 3 Elternpaaren anbieten oder raten kann. Persönlich bin ich schon sehr erleichtert, dass dieser 3. Vorfall nicht unter meiner Aufsichtspflicht passiert ist - aber ich hoffe, dass ich allen 3 Kindern gerecht werden kann und ihnen die Hilfe und den Schutz zukommen zu lassen, den sie brauchen.
Herzlichen Dank fürs Zuendelesen des Romans