Klaus Schlagmann, Psychotherapeut aus Saarbrücken
(Es ist mir ein Bedürfnis, mit meiner tatsächlichen Identität hier Stellung zu beziehen.)
Hallo,
ich möchte aus aktuellem Anlass (Veranstaltung im April) auf ein Thema hinweisen, das mich als Insider der Zunft seit vielen Jahren beschäftigt: Die quasi psychotherapeutisch abgesegnete Entschuldigung für Kinderschänder durch die Behauptung: Die Opfer sind selbst schuld!
Es ist schon eine Weile her (1997), da beklatschten auf einer der renommiertesten Psychotherapiefortbildungen im deutschsprachigen Raum, den Lindauer Psychotherapiewochen“ (LPTW) ca. 1000 Fachleute folgende Weisheit: Eine Grundschülerin (unkonkret: „im Alter unter 10 Jahren“) erlebe den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“; sie müsse „ihre Schuld tolerieren“. Die (angeblich berechtigten) Schuldgefühle erklärten die Depression, die das Opfer als Erwachsene entwickelt hatte.
Dies sagte damals Prof. Otto F. Kernberg; er gilt als einer der berühmtesten Psychoanalytiker der Welt. (Nach seinem Vortrag wurde er für eine 4-jährige Amtsperiode zum Präsidenten der "Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung", IPA, gewählt.) Sein ca. 80-minütige Vortrag enthält eine Fülle weiterer Ungeheuerlichkeiten. Ein offizieller Audio-Mitschnitt ist bis heute erhältlich über „Auditorium Netzwerk“. Der Vortrag wurde 1999 in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. (Kernberg ist Mitherausgeber der Zeitschrift.)
Seit ich den Artikel im Jahr 2000 erstmals gelesen hatte, habe ich Jahr für Jahr in nun insgesamt über 2000 Briefen und Mails an Fachkollegen (z.B. zu jeweiligen markanten Auftritten Kernbergs) auf diese Thesen aufmerksam gemacht. Sofern die diversen Professoren, Doktoren und Akademiker überhaupt geantwortet haben, wurde ich selbst oft pathologisiert bzw. beschimpft.
Hintergrund dieser bizarren Blindheit: Die Opferbeschuldigung – gerade bei sexuellem Missbrauch – wurde von Sigmund Freud dogmatisch in der Theorie der Psychotherapie verankert (Stichwort „Ödipuskomplex“) und wird deshalb seit über 100 Jahren zäh verteidigt.
In meiner eigenen Praxis haben sich Menschen vorgestellt, denen es nach einer solchen Opferbeschuldigung in einer vorangegangenen „Therapie“ schlechter ging als zuvor.
Publikationsversuche meinerseits scheiterten z.T. an den „Gutachtern“ der Zeitschrift. Drei veröffentlichte Beiträge (in: psychoneuro 2007, Integrative Therapie 2008, Psychodynamische Psychotherapie 2009) blieben praktisch ohne jede Resonanz der Fachkollegen. (Den Text der Beiträge stelle ich gerne zur Verfügung.)
Mehrfach hatte ich die Organisatoren bzw. die „wissenschaftliche Leitung“ der Lindauer Psychotherapiewochen auf Kernbergs „Lindauer Thesen“ angesprochen (seit Jahren: Prof. Verena Kast, Prof. Manfred Cierpka, dieses Jahr erstmals Prof. Peter Henningsen): Keinerlei Resonanz.
(In diesem Jahr sind meine drei Schreiben seit dem 20. Februar ohne Antwort.)
Von den sonstigen (ca. 200) Referenten dieses Jahres, die ich angeschrieben hatte, habe ich 21 Rückmeldungen erhalten, davon haben sich 16 zustimmend zu meiner Kritik geäußert; drei Antworten fallen mehr oder weniger schroff abweisend aus.
Bis 2008 saß Kernberg im „wissenschaftlichen Beirat“ der "Lindauer Psychotherapiewochen". Nach Einbeziehung von Stadträten und der Bürgermeisterin von Lindau in meine Kampagne wird Kernberg seit 2009 nun nicht mehr im „wissenschaftlichen Beirat“ geführt!
Bei den diesjährigen Lindauer Therapiewochen ist Kernberg jedoch erneut zu Gast. Er wird in der Woche vom 18. bis zum 22. April im Lindauer Stadttheater (ca. 800 Plätze) eine tägliche zentrale Morgenvorlesung halten (zum Thema „Liebe und Hass“).
Noch im Jahr 2010 wurden die Lindauer Psychotherapiewochen zu ihrem 60-jährigen Jubiläum mit ihrer Geschichte konfrontiert. Der Historiker Dr. Phillip Mettauer hatte im Auftrag der Organisatoren der Therapiewochen entsprechende Recherchen angestellt und zu einem Vortrag aufbereitet. Dabei kam, zu Tage, dass die medizinischen Gründerväter (Ernst Speer, Ernst Kretschmer, Berthold Kihn, Gustav Richard Heyer, Johannes Heinrich Schultz) einen engen Bezug zur Ideologie des Nationalsozialismus aufwiesen. Zu Kretschmer heißt es bei Mettauer (2010, S. 6): „1955 attestierte er als Gutachter in einem ‚Wiedergutmachungsverfahren’ eines an Depressionen leidenden Verfolgten des NS-Regimes, dass es keine verfolgungsbedingten Neurosen gäbe, da die ‚Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schweren psychischen Traumen’ unbegrenzt sei.“
Ganz ähnlich klingen die Thesen, die Otto F. Kernberg noch 42 Jahre nach Kretschmer in Lindau verkündet: Erfahrungen von KZ, Folter oder Vergewaltigung würden an sich nur psychische Belastungen hervorrufen, die 2-3 Jahre anhielten (Kernberg, 1999, S. 6). Danach würde sich die Symptomatik – nach Kernbergs Ansicht – bei gesunden Menschen quasi ganz von allein wieder auflösen. Wenn es zu länger anhaltenden Störungen komme, dann müssten diese eine andere Ursache haben: Sie hätten sich im Säuglingsalter aus „oraler Gier“ und „oralem Neid“ entwickelt.
Konkret heißt das im Fall eines Mannes, der sich seiner Familie gegenüber anhaltend aggressiv verhalten habe: Er habe seine „chronische Aggression“ an der Mutterbrust entwickelt. Dass er als 12jähriger Junge aus einem KZ befreit worden war, in dem man seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet hatte (Kernberg, 1999, S. 9), das kommt für die Erklärung seiner Verhaltensstörung für Kernberg nicht in Betracht!
Kernbergs Sichtweise mutet insofern ein wenig makaber an, als er selbst jüdischer Herkunft ist und als Kind mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohen war.
Im letzten Jahr haben sich Kirchen und Reformpädagogik in Deutschland der schmerzhaften Diskussion über den sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen gestellt. Nun ist es m.E. an der Zeit, dass sich auch die Psychotherapeutenschaft mit den Sünden ihrer Vergangenheit ernsthaft konfrontiert!
Die Zunft der Psychotherapeuten, die bei ihrer Klientel so gerne ein „Erinnern“ und „Durcharbeiten“ anmahnt, versagt offenbar, wenn es sie selbst betrifft!
Meine Forderung an die Organisatoren der Lindauer Therapiewochen (auch vermittelt an den dortigen Stadtrat und die Bürgermeisterin): Entweder widerruft Kernberg seine „Lindauer Thesen“, oder er wird nicht einmal mehr als Referent in Lindau zugelassen! (Darüber hinaus würde ich im nächsten Jahr gerne bei diesen Therapiewochen als Referent zu Kernbergs Thesen zugelassen. Auch diese wiederholte Anfrage wurde mir nie beantwortet.)
Nachdem ich mehr als 11 Jahre lang - vergeblich - versucht habe, innerhalb des Kreises meiner Fachkolleginnen und - kollegen eine engagierte Diskussion über Kernbergs unmenschliche Thesen anzuzetteln (die lange Liste meiner bizarren Erfahrungen dieser Jahre lasse ich gerne allen Interessierten zukommen), suche ich nun verstärkt die Öffentlichkeit. Auf meiner Webseite (
http://www.oedipus-online.de - Stichwort: Kernberg) ist u.a. der Gesamttext von Kernbergs Artikel nachzulesen. Es würde mich freuen, wenn sich auch andere Menschen über diese Thesen empören. (Meiner Erfahrung nach tun sich Menschen, die nicht durch ein Psychologiestudium "verbildet" sind, leichter damit, den Irrsinn dieser Thesen als solchen zu erkennen.)
Ein Protest könnte sich richten an die Organisatoren und die "wissenschaftliche Leitung" der Lindauer Psychotherapiewochen, oder auch an die Bürgermeisterin von Lindau. (Von dort habe ich bislang auch keinerlei Reaktion erhalten; nach einer Email und zwei telefonischen Anfragen hieß es zwar, ich würde zurückgerufen - das ist aber seit über einer Woche nicht geschehen.)
Für Rückfragen bin ich jederzeit offen.
Klaus Schlagmann