Da fällt mir doch spontan ein Text ein, den ich hier kurz niederlegen möchte:
Wie werden aus Zuschauerinnen und Zuschauern Verbündete? - Einige Überlegungen
Gesetzt den Fall Sie möchten aus der Position des unbeteiligten Zuschauers herauskommen, weil Sie für sich entschieden haben, dass die Haltung der Neutralität die Täter und die Ausbreitung der "Epidemie Gewalttätigkeit" unterstützt - was können Sie tun? Womit müssen Sie rechnen? Worauf haben Sie sich einzustellen? Ich kann Ihnen hier nur einige erste Überlegungen anbieten und lade Sie zum Mitdenken ein.
Gewalt wahrnehmen: Täter haben eine gesellschaftlich gestützte Fähigkeit, die Wahrnehmung der Gewalt zu verhindern. Sie machen die Gewalt unsichtbar, definieren sie als Liebe, einen unbedeutenden Übergriff, eine folgenlose Tat oder gar eine Situation, deren Opfer sie wurden. Aus einem Verbrechen machen sie ein Kavaliersdelikt - diese Deutung beim Gegenüber augenzwinkernd einfordernd oder bereits voraussetzend. Mit Dreistigkeit gehen Täter weiter ihren gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit nach - unterstützt von einer Seilschaft von HelferInnen, die sich oft ihrer Tätigkeit nicht bewusst ist. Da kann es schon einmal passieren, dass ein Täter vorgibt, durch seine unbestrittene seelisch-sexuelle Gewalttat - die er in ihrer Qualität als Gewalttat jedoch leugnet - "gereift" zu sein. Es ist also zu lernen, Gewalt überhaupt als solche wahrzunehmen, sich der Definitionsmacht von Tätern zu entziehen und Situationen aus der Perspektive der Opfer zu betrachten.
Es gilt, einen Blick auf sehr unterschiedliche Gewaltformen zu gewinnen - auf kriegerische ebenso wie auf sprachliche und strukturelle, auf körperliche, sexuelle und seelische Gewalt.
Gefühle zulassen, ohne sich in ihnen zu verlieren: Die Wahrnehmung von Gewalt ist zumindest im Anfang oft von einer Achterbahnfahrt der Gefühle begleitet. Zorn, Empörung, Ohnmacht, Mitgefühl, Aktionismus, Hass auf Täter aber auch Aggression gegenüber Opfern (Warum haben die sich nicht gewehrt?!) können sehr belasten. Am schwierigsten auszuhalten sind vielleicht die Ohnmachtsgefühle, wenn Sie erkennen müssen, dass z.B. ein Kind keine Handlungsoption hatte, die seine Situation hätte verbessern können. Diese Ohnmacht ähnelt der Ohnmacht der Opfer. Sie ist tatsächlich schwer auszuhalten. Sie kann jedoch auch als Akt der Solidarität mit den Opfern gedeutet werden. Dann ist ihr eine Kraft immanent, die zum beharrlichen Widerstand befähigt. Auch und gerade wenn heftige und gegenläufige Gefühle im Gefolge der Beschäftigung mit Gewalt auftauchen, haben Sie ein
Recht auf Abstand und Berücksichtigung der eigenen Belastbarkeit: Die Wahrnehmung von Gewalt und die Konfrontation mit ihr kann Ihr Wohlbefinden und Ihr Sicherheitsgefühl beeinträchtigen. Dann ist es gut, sich klar zu machen, dass Sie auch wieder in den Zustand der Gelassenheit zurückfinden und bewährte Mittel der Selbstberuhigung anwenden dürfen. Nur weil ein anderer Mensch diese Möglichkeit nicht ohne Weiteres hat, ist sie Ihnen nicht verboten. Im Gegenteil: Verbündete benötigen Freude, damit sie Kraft und Ausdauer haben. Zugleich können Sie damit Überlebenden als Modell dafür dienen, dass Leid UND Freude zum Leben gehören. - Wichtig ist auch, dass Sie auf Ihre eigene Belastbarkeit achten. Sie können niemandem mehr helfen, wenn Sie sich selbst überlasten. Es ist gut, fürsorglich mit sich selbst umzugehen.
Sich um Klärungen bemühen, auch wenn dies schmerzhaft sein kann: Vielleicht entdecken Sie bei sich Urteile über Aspekte von Gewalttaten, von denen Sie fürchten, sie widersprechen möglicherweise der "political correctness". Vielleicht fürchten Sie, Betroffene zu verletzen, wenn Ihre Urteile und Vorurteile benannt werden. Dann bedenken Sie bitte, dass die unausgesprochenen Fragen, Urteile, Vor-Urteile, Vorbehalte... solange im Untergrund schwelen und das Gespräch vergiften, bis es versandet. Gewaltüberlebende haben im Dienste ihres Überlebens häufig gelernt, seismographisch untergründige Stimmungen und atmosphärische Störungen wahrzunehmen. Im Interesse der Fortdauer konstruktiver Zusammenarbeit ist es gut, die Unklarheiten auf den Tisch zu legen und gemeinsam zu beleuchten.
Ihre eigene Stärke nutzen: Sie können durch aufmerksames und Anteil nehmendes Zuhören Leid reduzieren helfen. Aber Sie können das Leid der Opfer nicht tragen und sollten dies auch nicht wollen. Der Versuch würde Ihre Handlungsfähigkeit einschränken - eine Handlungsfähigkeit, die für die Opfer und zur Verhinderung weiterer Opfer dringend gebraucht wird. Es ist hilfreich, wenn Verbündete ihre eigene Rolle erkennen und sie nicht mit der Rolle der Opfer verwechseln.
Mit äußeren Widerständen rechnen: Sie müssen davon ausgehen, dass Sie unterschiedlichsten Widerständen begegnen, wenn Sie "Gewalt" zum Thema machen oder gar zu erkennen geben, dass Sie mit Betroffenen zusammen arbeiten. Sie müssen gewärtig sein, dass auch Ihnen geschieht, was Opfer kennen: Sie werden isoliert. Der mit Abstand häufigste Widerstand geschieht in Form von Schweigen, das Sie an Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln lässt. Widerstand kann Ihnen jedoch auch als aggressive und beleidigende Abwehr begegnen, manchmal völlig unvorbereitet und ohne nachvollziehbare Argumente. Mit Verleugnen der Bedeutung des Themas, Verharmlosung der Folgen, Verkleinerung der Problemumfangs, Umkehrung der Problematik (Missbrauch mit dem Missbrauch), Beschuldigung der Opfer.... müssen Sie rechnen. Bedenken Sie, dass "Gewalt" in einem hochwirksamen Tabu-Bereich angesiedelt ist, der "nicht ungestraft" durchbrochen werden kann. Die widerständigen Reaktionen sind "normale" Reaktionen auf die drohende Erkenntnis, wie sehr unser Leben von Gewalt geprägt ist. Das Wissen darum kann Sie vor vorschneller Verurteilung anderer Menschen schützen, ohne Ihr klares Urteil trüben zu müssen.
Mit inneren Widerständen rechnen: Erschrecken Sie nicht vor sich selbst, wenn Sie bei sich feststellen müssen, dass Sie des Themas Gewalt überdrüssig sind, es abwehren wollen, zur (vermeintlich gewaltfreien) Tagesordnung übergehen möchten. Vielleicht erkennen Sie, dass Sie insgeheim die Strategien derer übernehmen möchten, die über Gewalt schweigen, sie befürworten, verharmlosen, nicht wahrnehmen, Opfer beschuldigen.... Opfer kennen diese Reaktionen als "Identifikation mit dem Aggressor".
Bedenken Sie, dass das Überlaufen zur Täterseite ein Versuch ist, mit Ihrer Ohnmacht umzugehen. Es ist gut, diesen Versuch bei sich selbst wahrzunehmen, ohne sich dafür zu verurteilen. Bereits die Wahrnehmung kann verhindern, dass Sie tun, was Sie - auch - denken. Allerdings müssen solche Impulse ausgesprochen werden dürfen, damit sie nicht im Untergrund Unheil anrichten.
Der Versuchung zum Aktionismus widerstehen: Die geschärfte Wahrnehmung für Gewalt und das Mit-Fühlen mit Opfern, wenn Sie einmal die langfristigen Gewaltfolgen kennen, können dazu verführen, schnell und viel gegen Gewalt unternehmen zu wollen. Wenn Sie bedenken, dass Gewalt ein Phänomen ist, das die Menschheit schon immer begleitet hat, können Sie die Größe der Aufgabe ermessen. Dieses Wissen schützt Sie vor Selbstüberforderung und der dann meist schnell folgenden Resignation.
Der Versuchung zur Geringschätzung der eigenen Möglichkeiten widerstehen: Es ist schon viel gewonnen, wenn Sie in Ihrer Lebenswelt nach Ihren Kräften für die Wahrnehmung von Gewalt sensiblisieren helfen - und das ist oft schwer genug. ()... Zivilcourage wird benötigt, wenn in der Öffentlichkeit zum Schutz eines Menschen aufzustehen und einzugreifen ist. Phantasie und Beharrlichkeit ist gefragt, wenn Sie sich im beruflichen und nachbarschaftlichen Kontext für gewaltreduzierende Verhältnisse einsetzen. Es ist gut, wenn Sie aufmerksam und dankbar Ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen und würdigen können.
Sich um (spirituelle) Verankerung und Freude bemühen: Ohne eine lebendige Verankerung in einem spirituellen Halt ist die Konfrontation mit der Gewalttätigkeit von Menschen m. E. nicht auszuhalten. Sie benötigen ein zuverlässiges Wertesystem, das Ihnen Orientierung und Richtschnur für eigene Entscheidungen ist. Eine gute Verankerung in einem tragfähigen Sinnsystem erlaubt Ihnen, die Frage nach dem Warum des Leids zu stellen, auch wenn Sie keine Antwort finden: Sie können die Antwort Gott überlassen, ohne in Hoffnungslosigkeit zu fallen
(Quelle:
www.talita-kum.de)